19.09.2005 mit W. M. Berschtejn Psychotherapeut - Konfliktologe
mit W. M. Berschtejn Psychotherapeut -
Konfliktologe
Die karelische Abteilung der „Jugendgruppe zur
Einhaltung der Rechtsnormen (MPG)“ hat mich mit genauer, clever
durchgefuhrter Information irgendwie in gar nicht auffalliger Art
und Weise, aber doch vollig erfolgreich umworben und dann in ihre
Reihen aufgenommen: mich, einen wahrlich nicht mehr jungen Menschen
nun mitten im Kreis ihrer Altersgenossen. Mit ihrer Einwilligung
begann ich nun, mit den alteren Schulerinnen und Schulern sowie den
Lehrkraften systematisch kommunikative Ubungen und theoretische
Lektionen zu Toleranz durchzufuhren. Diesbezuglich gibt es etwelche
Uberlegungen, die ich gerne weitergeben mochte. Uber die Lehrer
werde ich jetzt nicht reden: Sie sind eine besondere Kaste, meiner
Meinung nach zuweilen mit standhaften, kaum beweglichen Blicken, die
keinen bewertenden Urteilen unterliegen. Ihre Entstehung und
„Betonierung“ bei Lehrern ist gesetzma?ig. Das hat aber nichts mit
dem Thema Toleranz zu tun, sondern mit Erscheinungen von Deformation
und „Ausbrennen“ als Folgen des Berufs („deformation professionelle“
bzw. „burning out“). Uber das Thema Toleranz haben sich die
Schulerinnen und Schuler der obersten Klassen mit mir im Rahmen von
Ubungen in detaillierter und produktiver Weise unterhalten. Darin
wurden Gesetzma?igkeiten bestatigt, die von Psychologen, die
zielgerichtet zum Thema Toleranz forschten, schon aufgedeckt worden
waren – aber es wurde ein allgemeines russisches Bild von Toleranz
gezeichnet.
Zentral ist dabei, dass die uberwaltigende
Mehrheit der Beteiligten sehr gut verstand, worum es bei Toleranz
geht. Sie wu?ten genau, worin sich diese zeigt. Aber die Diskussion
lief mit Bestandigkeit darauf hinaus, Probleme zwischen Volkern
beziehungsweise Religionen zu erortern. Es ist moglich, dass dies
damit verbunden ist, dass solche Probleme eher erkannt werden, dass
sie leicht nachvollziehbar sind, weil sie taglich uberall behandelt
werden. Und die Schulerinnen und Schuler sprachen in verstandiger
Weise von der Notwendigkeit, Achtung gegenuber fremder
Nationalkultur und –tradition, gegenuber unterschiedlicher
Religionszugehorigkeit zu bekunden... Praktisch niemand stimmte in
den Diskussionen mit dem Prinzip uberein, das in der
nationalistischen Losung „Ru?land – den Russen“ ausgedruckt wird.
Ein Teil der Schulerinnen und Schuler suchte darin einen anderen
Kontext und versuchte, ihrer eigenen Interpretation entsprechend
diese Losung umzuformen: beispielsweise auf folgende Art „Ru?land –
nicht fur illegale Migranten“.
Fur mich war es interessant
und lehrreich, dass sich in verschiedenen Gruppen die Schulerinnen
und Schuler bezuglich ihres Verhaltens bei den kommunikativen
Spielen in einem einheitlichen Typus fassen lie?en: willentlich oder
unbeabsichtigt strebten sie danach, ein hinsichtlich sozialer
Komponenten annehmbares Benehmen vorzuzeigen. So charakterisierten
sie beispielsweise ihre eigene und die „fremde“ Subgruppe
ausschlie?lich nach au?erlichen Kennzeichen: „Alle in Turnschuhen“,
„Alle sind in derselben Klasse“, „Alle kommen aus demselben
Stadtteil“ ... Und etwa in dieser Art losten sie die Aufgabe, zu
erortern, in welcher Beziehung die eigene Subgruppe schlechter oder
besser als die fremde ist. Da war beispielsweise Folgendes zu
vernehmen: „bei ihnen gibt es mehr Knaben“, „bei uns gibt es zwei
Superschulerinnen beziehungsweise -schuler“, „bei ihnen gibt es mehr
Schulerinnen und Schuler, die den Unterricht schwanzen und
herumhangen“ ... Das hei?t, es fiel nicht ein einziges Wort, womit
auf irgendeine Weise nicht nur nationale Werte verletzt, sondern
auch individuelle Eigenschaften gekrankt werden konnten. Weiter
wurde nichts ausgesprochen, womit man irgendjemanden auf irgendeine
Art beleidigen konnte! Welche weltanschauliche Idylle! All dies
deute ich als tagliches Auftauchen meiner minderjahrigen, unter
Vormundschaft stehenden Symptome des Konformismus, der erfasst und
erklart werden muss. Meiner Meinung nach gibt es eine uberzeugende
Begrundung dafur, was innerhalb der kommunikativen Ubungen geschehen
ist. Ich arbeitete mit Gruppen von Gleichaltrigen. Sie hangten sich
aneinander, sie haben das Bedurfnis, sich selbst als Teil einer
Gruppe zu empfinden, die sich gerade bildet und auf psychologischer
Ebene fur jeden Angehorigen Sicherheit bietet. In den spielerischen
Ubungen bemuhte ich mich, die Ebene der Toleranzfahigkeit der jungen
Teilnehmer zu erfassen, wobei diese sich selbst daruber im Klaren
sein sollten. Doch die Schulerinnen und Schuler nahmen in diesen
spielerischen Ubungen intuitiv den Angriff auf ihre Einheit wahr,
den Versuch, „ihre Kopfe zusammensto?en zu lassen“, und stellten
sich dem so gut wie moglich entgegen, indem sie die Aufgaben auf
einer bezuglich der Einheit ihrer freundschaftlichen Gemeinschaft
ungefahrlichen Ebene losten. Mit anderen Worten, in den Ubungen zu
Toleranz mit Schulerinnen und Schulern aus derselben Klasse tritt
hauptsachlich und markanter als alles andere das Niveau ihrer
Einigkeit zutage. Klar ist das auch ein Resultat, dass ich nicht
geringschatzen sollte. Doch fur mich selbst habe ich den Schluss
gezogen: Ubungen zu Toleranz mussen mit Vertretern verschiedener
Gruppen oder Subgruppen durchgefuhrt werden, mit Menschen, die sich
untereinander kaum kennen.
In jeder Ubung stellte ich den
Schulerinnen und Schulern die Frage: „Also, auch wenn ihr, als
typische Vertreter von Abschlussklassen aus Petrozavodsk, derma?en
tolerant und rucksichtsvoll im Umgang mit anderen Nationalitaten
seid, gibt es bestimmt den einen oder anderen, zum Teufel auch, der
von Zeit zu Zeit nach dem Unterricht auf dem Schulhof einen
„Fremdling“ verdrischt, oder?!“ Eine deutliche Antwort erhielt ich
kein einziges Mal. Ja, ehrlich gesagt habe ich dies auch nicht
erwartet. Woher sollen die Schulerinnen und Schuler die bei ihnen in
diesem Alter ablaufenden Prozesse verstehen, die in unseren auf drei
bis vier Unterrichtseinheiten beschrankten Zusammenkunften zur
Sprache kommen und weiter bekraftigt werden? Woher sollen sie die
wahren Grunde fur fehlende Toleranz kennen? Und ich versuchte, ihnen
daruber zu berichten...
Im Alter von Halbwuchsigen und
Fruhjugendlichen ist das Streben nach Vereinigung in Gruppen
besonders ausgepragt. Aber die Entstehung einer Gruppe ist, wie es
die Psychologie festgesetzt hat, unabhangig vom Alter ein
einheitlicher Prozess, der aus einigen bestimmten Etappen besteht.
Am Anfang werden wir einer Gruppe zugeschrieben oder wir tun dies
gleich selbst. Und zu Beginn messen wir dieser Tatsache keine
besondere Bedeutung bei, weil wir – sei es im Rahmen der Gruppe oder
au?erhalb derer Grenzen – uns darum bemuhen, hauptsachlich unsere
Individualitat zu bewahren. Und dieses Recht gewahren wir auch
anderen. Das hei?t, wir verhalten uns schon in der allerersten Zeit,
wenn wir uns in ein Wechselverhaltnis mit einer Gruppe bringen,
vollends tolerant.
Jede beliebige Gruppe aber strebt in
objektiver Weise danach, sich in verbindlicher Art zusammen zu
schlie?en. Und leichter, schneller, fester schwei?t man sich gegen
den gemeinsamen Feind zusammen. Dieser wird aktiv gesucht, diesen
denkt man sich wenn notig aus ... Wenn erst dieser Prozess in Gang
kommt, kann man die Toleranz getrost vergessen! Zum „Feind“ wird
nicht selten ein Mitglied derselben Gruppe, dem die Rolle des
„Sundenbocks“ zugeteilt wird, wobei sich die ubrigen Mitglieder
gegen ihn „verbrudern“. Wenn dieser Mensch aus der Gruppe
ausgeschlossen wird, und das geschieht in praktisch jedem Fall,
bleibt sein Platz nicht lange vakant. Allerdings gehen in der Etappe
der Auseinandersetzung innerhalb der Gruppe noch lange nicht alle
vollends in der Gruppe auf. Viele behalten ihre eigene Meinung und
ihre Fahigkeit zu objektiven kritischen Aussagen bei. Deshalb sucht
die Gruppe einen au?enstehenden Feind, wobei eine Art kollektive
Intuition als Handlungsmittel eingesetzt wird. Haufig wird dieser
mit einer anderen Gruppe personifiziert. So sind unter bestimmten
Bedingungen die „Fans“ eines Fussballklubs sehr daran interessiert,
dass „Fans“ eines anderen Klubs existent sind. Und wie wir wissen,
finden diese Gruppen einander. Der Prozess des Toleranzbruchs geht
auf eine Ebene uber, in der zwischen mehreren Gruppen agiert wird,
wobei sich dies auch nach bereits bekannten psychologischen Gesetzen
entwickelt. In erster Linie konzentriert sich eine Gruppe auf eine
andere, und es entstehen Verallgemeinerungen hinsichtlich der
Beziehung von „eigen“ und „fremd“. Das ist alles! Beide Gruppen
horen auf, sich gegenseitig als Gesamtheit von Individuen
wahrzunehmen und wandeln sich jeweils zu einer gleichartigen
gesichtslosen Masse, wobei sie einander feindlich gegenuberstehen.
Dieses Phanomen baut auf dem Mechanismus des Vergleiches auf. Ob sie
besser oder schlechter sind – „sie“ hat uberhaupt keine Bedeutung.
Hauptsache, sie sind anders! Und es treten zwei Prinzipien der
absoluten Intoleranz in Kraft, die in Ru?land schon in den ersten
Jahren der Sowjetmacht formuliert worden sind: „Wer nicht fur uns
ist, ist gegen uns!“ und „Wenn sich der Feind nicht ergibt, wird er
vernichtet!“ Aber der „Feind“ muss irgendwie charakterisiert werden.
Und hier entsteht die Wortverbindung „Sie alle ... „. Dieser folgt
weiter unbedingt eine negative Charakterisierung: „Sie alle sind
hinterlistig“, „Sie alle stehlen“, „Sie alle sind gegen unsere
Leute“ ... Schlie?lich kommt eine Gruppe – unter Einfluss ihrer
Leitfiguren (uber sie sollte gesondert diskutiert werden) – zum
Schluss: Sind „sie“ mal nicht so, wie wir das wollen, planen „sie“
bestimmt irgendetwas Ubles und Gefahrliches gegen uns. Danach fangt
diese Gruppe an, aktiven Widerstand gegen diejenigen zu leisten, die
wahrscheinlich nicht einmal daran gedacht haben, in irgendeiner Art
uber sie herzufallen. Und die zweite Gruppe nimmt diesen „praventiv
geleisteten Widerstand“ als unverhullten Angriff wahr und wehrt sich
auch aktiv dagegen. So also beginnt oft eine primitive Schlagerei,
bei welcher es gar keine Angreifer gibt – allein Verteidigende, und
alle Beteiligten fuhlen sich im Recht und beleidigt.
In
meinen Seminaren, Ubungen und Diskussionen weise ich besonders auf
folgende Gefahr hin: Uberall, wo die Worte „Sie alle ... „ laut
ausgesprochen werden – und sei es mit dem Anflug eines Kompliment
(„Sie alle sind klug“, „Sie alle sind standhaft“ ... ) – dort ist
keine Toleranz zu finden, sondern es besteht eine gro?e Bedrohung
durch Feindlichkeit, bisweilen durch blutige Feindschaft. Auf der
Stelle sollte man sich daran erinnern, dass „sie alle“ aus konkreten
Personen bestehen – kluge wie dumme, gute wie schlechte, freundliche
wie bosartige Menschen, die es in jeder Nation, in jedem Volk gibt,
neben Menschen aller Glaubensrichtungen und unterschiedlicher
Hautfarbe. So besteht eine Moglichkeit der Vergro?erung von Toleranz
zwischen Angehorigen verschiedener Nationen beziehungsweise Volkern
oder unterschiedlicher Religionen darin, sich nicht auf die „fremde“
Gruppe zu konzentrieren, sondern auf die konkreten Menschen, die ihr
angehoren. Mit Sicherheit finden wir unter ihnen Personen, denen wir
unsere Wertschatzung und Sympathie entgegenbringen. Dies bedeutet,
dass es moglich ist, nicht daruber zu sprechen, was uns von einander
trennt, sondern daruber, was uns verbindet. Zweites lasst sich auf
Wunsch der beteiligten Parteien immer finden!
Alle diese
Probleme erortere ich auch mit den Schulerinnen und Schuler in
meinen kommunikativen Ubungen – aus verstandlichen Grunden mit
anderen, fur sie leicht verstandlichen Worten. Und hier gleich noch
eine Beobachtung, die ich bei meiner Arbeit mit den Schulerinnen und
Schulern der Abschlussklassen gemacht habe: Sobald ich versucht
habe, das Thema Toleranz au?erhalb des Rahmens Nation, Volk,
Religion, Hautfarbe anzusprechen und die Frage nach der Toleranz von
Minderheiten bezuglich sexueller Vorlieben aufwarf, konnten oder
wollten sie mich nicht mehr verstehen. Dabei teilten sich die
Ubungsteilnehmerinnen und -teilnehmer in der Regel in zwei Gruppen
auf: eine Mehrzahl operiert mit Stereotypen und Vorurteilen, eine
kleine Zahl verfugt nicht einmal uber die elementaren Kenntnisse in
diesem Gebiet. Fur mich als Psychologen, der sich nicht ein Jahr mit
Problemen der Sexualkunde beschaftigt hat, ist es eine vollkommen
offensichtliche Notwendigkeit, die Jugendlichen in dieser Richtung
aufzuklaren. Ob man dies nachvollziehen wird und die Moglichkeiten
dafur schaffen wird, um dies bei den ideologischen Bedingungen, die
heute in Ru?land herrschen, durchzufuhren, ist fur mich mehr als
fraglich.
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